TOM SCHIMMECKs ARCHIV
2002


"Der Narzisst umgibt sich mit Jasagern und Speichelleckern"

Der deutsche Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth über die psychischen Defekte mächtiger Männer und die seelischen Abgründe der Weltpolitik.

Herr Dr. Wirth, Sie haben ein dickes Buch gefüllt zum Thema „Macht und Narzissmus“, führen uns vom römischen Kaiser Caligula über Ceausescu zu aktuelleren Gestalten wie Helmut Kohl und Slobodan Milosevic. Was haben die gemein?

Hans-Jürgen Wirth: Ihnen ist ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Selbstgefühl und ihren Mitmenschen gemein. Weil sie unter Minderwertigkeits- und Kleinheitsgefühlen leiden und diese kompensieren müssen, indem sie sich besonders groß, mächtig und selbstbewusst geben. Ich sage damit nicht, dass diese Politiker gleich zu bewerten seien. Aber es gibt gemeinsame Grundkonflikte.

Sie betonen immer wieder: Ein gewisses Maß an Narzissmus ist notwendig. Wo liegt die pathologische Grenze?

Wirth: Der Mensch an sich ist extrem abhängig von Zuwendung und Anerkennung anderer. Ein Mensch mit gesundem Narzissmus kann diese Abhängigkeit ertragen. Der Kranke versucht sie zu minimieren, indem er Macht und Kontrolle über sie zu erlangen versucht.

Gib es eine Art fatale Spirale: Erfolgreiche Bestätigung durch Macht führt zur Lust auf immer mehr?

Wirth: Es gibt da einen Teufelskreis. Man könnte ja meinen, wer Erfolg hat und Macht erlangt, baut ein gesundes Selbstwertbewusstsein auf. Das kommt auch vor. Beim gestörten Narzissten aber festigen die Erfolge nicht das Selbstwertgefühl, bei ihnen bleibt der nagende Selbstzweifel. Und deshalb werden immer höhere Dosen von Zuwendung und Macht notwendig.

"Im tiefsten Inneren ist er ein
unsicherer, ängstlicher, verklemmter,
von Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen
bestimmter Mensch."

Wie tickt der Macht-Junkie?

Wirth: Der Machtmensch hat kein Vertrauen zu sich selber und seinen Mitmenschen. Er hält Ohmacht und Abhängigkeit nicht aus und verlegt sich dann einseitig darauf, Kontrolle auszuüben. Zugleich weiß er: Zuwendung und Anerkennung kommen nicht freiwillig, sondern aus Machtkalkül. Das stachelt sein Misstrauen an.

Der moderne Populist hat Konjunktur, von Silvio Berlusconi über den gerade im freien Fall befindlichen Jürgen Möllemann bis zu Jörg Haider. Stehen am Ende des Narzissten zwangsläufig Zusammenbruch und Zerstörung?

Wirth: In pathologischen Fällen ja. Der narzisstisch gestörte Machtmensch glaubt, seine eigenen Gefühle vollständig zu kontrollieren. Im tiefsten Inneren aber ist er ein unsicherer, ängstlicher, verklemmter, von Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen bestimmter Mensch. Das ist seine seelische Ausgangsposition aus der Kindheit. Seine Bewältigungsstrategie besteht darin, möglichst wenig abhängig zu sein und andere möglicht anhängig von sich zu machen. Deshalb ist die Politik so ein gutes Umfeld für ihn. Denn Macht bedeutet ja, über andere Kontrolle auszuüben.

Ein happy end scheint in diesen Biographien selten zu sein.

Wirth: Natürlich. Weil der Narzisst ja weiß, dass er lügt und durch Täuschung und Manipulation an sein Ziel gekommen ist.

Sie schildern die fast wie eine griechische Tragödie anmutende Geschichte des deutschen Politikers Uwe Barschel, der bekanntlich in einer Schweizer Badewanne starb. Fühlen Sie da als Therapeut mit?

Wirth: Auf jeden Fall. Bei Barschel konnte ich mich einfühlen wie in einen Patienten. Obwohl ich mich erst nach seinem Tod mit ihm zu beschäftigen begann. Mich interessierte: Wie kann ein Mensch, der es zum Ministerpräsidenten gebracht hat, sich in eine Situation verrennen, die derart ausweglos, beschämend und kränkend ist, dass er sich umbringen muss?

Hat sie auch der Niedergang des „massigen Essers“ Helmut Kohl bewegt?

Wirth: Wie immer man Kohl bewerten mag – dass er sich am Schluss selber derart demontiert, empfand ich als tragisch.

Joschka Fischer kommt gut weg bei Ihnen. Sie sind selber Frankfurter und zählen sich zur 68er-Generation. Ist Fischer ihr Beispiel für die geglückte Mischung von Narzissmus und Macht?

Wirth: Ich sehe ihn als relativ geglücktes Beispiel einer Politikerkarriere an, wobei man natürlich noch nicht weiß, wie sie weitergeht. Fischer hat sich aus narzisstischen Größen- und Machtphantasien, die in der Studentenbewegung der 60er und 70er weit verbreitet waren, herausgearbeitet. Dieser politische, ideologische und moralische Rigorismus, mit dem die Mächtigen damals beurteilt wurden, war ja auch Ausdruck von Selbstüberschätzung und Realitätsverkennung. Fischer und die Grünen haben jetzt ein realistischeres Weltbild und Teil an der Macht, mit allen Gefahren und Komplikationen, die das mit sich bringt.

Manchem mag das als schnöde Anpassung erscheinen...

Wirth: So kann man es sehen. Ich würde dagegenhalten, dass Anpassung nicht nur negativ ist. Sich an seine Umwelt anzupassen ist auch lebensnotwendig. Solange man sich Kritikfähigkeit bewahrt.

Im Falle des Slobodan Milosevic beschreiben sie das seelische Umfeld: Den Suizid des Vaters, der Mutter und des Lieblingsonkels. Bei Kohl erwähnen sie den Selbstmord der Frau. Sind das Ingredienzien?

Wirth: Ja. Und ich versuche das weiterzuspannen, das gesellschaftlich-kulturelle Umfeld mit einzubeziehen. Im Falle Milosevic haben wir eine Gesellschaft, die von Gewalt und Gewalterfahrung, aber auch von Verherrlichung und ideologischer Rechtfertigung der Gewalt, etwa im Verhältnis von Mann und Frau und in der Kindererziehung, geprägt ist. Wobei Täter und Opfer häufig identisch sind. Milosevic war eben auch ein Opfer, wurde in seiner Kindheit schwer traumatisiert. Das gilt sicher für viele in seiner politischen Clique, die „ethnische Säuberungen“ getragen und gerechtfertigt haben.

Ist der letzte Weltkrieg also ein gemeinsamer Nenner, von den Kämpfen auf dem Balkan bis zu den Nazieltern Haiders...

Wirth: Auf jeden Fall. Man muss gleichwohl unterscheiden. Natürlich liegen Welten etwa zwischen Kohl und Milosevic. Aber auch in Deutschland sind Gewalterfahrungen als Täter wie als Opfer in extremem Maße vorhanden. Das ist immer noch virulent. Man sieht es wieder am letzten „Judenstern“-Fauxpas des Roland Koch.

„So denkt es in ihm“, hieß es in einem klugen Kommentar.

Wirth: Ja, das lebt weiter in den Köpfen. Wobei man zur Verteidigung Deutschlands sagen muss: Dieses Land hat es vermocht, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen. Da ist viel passiert.

Die wirklich Mächtigen
landen selten auf der Couch.

Österreich ist...

Wirth:...sehr viel weniger bekannt dafür. Ich habe in New York jüdische Emigranten interviewt, die fahren gerne wieder nach Deutschland, aber ungern nach Österreich, weil sie dort auf einen kaum verhohlenen Antisemitismus stoßen, auf eine Verleugnung der Vergangenheit, die sie verletzt. Österreich hat sich eben dahinter versteckt, dass es selber Opfer war. Das hat schwerwiegende Folgen für die Gesellschaft heute. Der Erfolg eines Haiders war in Deutschland eben nicht möglich.

Sie mutmaßen, Slobodan Milosevic habe das Bombardement der NATO mit „bittersüßer Lust“ genossen. Ist das eine schrille Form der Befriedigung?

Wirth: Ja. Der Sadist sucht im sadomasochistischen Akt die vollständige Kontrolle, auch um den Preis der Selbstbestrafung und Zerstörung. Er hatte ja wirklich die Möglichkeit, die Angriffe jederzeit zu stoppen. Es ist ein pathologischer Narzissmus, wenn ein Staatsmann zulässt, dass sein Land zerstört wird, und nicht klein beigeben kann, weil das sein Selbstbewusstsein zerstören würde.

Etwas anderes als die Attacke hätte bei einem wie Milosevic auch nicht gefruchtet?

Wirth: Ich glaube, er war nicht anders zu stoppen. Aus meiner psychodynamischen Sicht war Europa in den Jahren zuvor viel zu nachsichtig.

Haiders Elan seit Mitte der 80er Jahre ist immer wieder bestaunt worden. Seine Unterwerfung der Partei, sein permanentes Emporstreben, was sehen sie darin?

Wirth: Das hat etwas manisches. Um eigene Versagensängste, Kleinheits- und Abhängigkeitsgefühle zu überspielen, verkehrt er sie ins Gegenteil: Immer aktiv, immer der Erste, immer der Mutigste, der Waghalsigste. Im Bungeespringen Haiders, im Fallschirmspringen Möllemanns zeigt sich dieser überzogene, manische Drang sich zu beweisen.

In Österreich war davon ein Viertel der Wähler bis vor kurzem durchaus angetan.

Wirth: Das ist ein Grundproblem der Menschen. Die Strategie der Verkehrung ins Gegenteil durch manischen Aktivismus ist ein typisches, weit verbreitetes, männliches Bewältigungsmuster. Deswegen imponieren Politikertypen, die das beispielhaft vorführen.

Die wirklich Mächtigen, sagen sie, landen selten auf der Couch, weil sie ihre neurotischen Bedürfnisse ungehindert und ungestraft in der Realität ausleben könnten.

Wirth: Aber es ist nicht selten, dass Menschen aus dem familiären Umfeld von Führungspositionen aus der Politik oder Wirtschaft Symptomträger werden und beim Therapeuten landen. Die Krankheitsverursacher selber haben eine große Abwehr dagegen, erkranken vielleicht an anderen Krankheiten, vermeiden es aber, sich den seelischen Ursachen zuzuwenden.

"Beim normalen Selbstmörder gibt
es ja oft diese Grandiosität."

Politik sei in ihren Augen das ideale Terrain für Hochstapler, der der Öffentlichkeit eine „Als-ob-Persönlichkeit“ vorgaukelt. Wie kann der Politiker sich schützen? Welche charakterliche Grundausstattung braucht er?

Wirth: Die Rückbindung an demokratische Prozesse muss funktionieren. Entscheidend ist die Gruppe, die den Politiker umgibt, die Kollegen und Berater. Der Narzisst umgibt sich mit Jasagern, Speichelleckern, mit Leuten, die ihn immer nur bestätigen. Das führt natürlich zum Realitätsverlust, zu Hochstapelei und also dazu, sich Illusionen über sich und die Realität zu machen. Wer sich mit kritischen Beratern umgibt, kann Fallen und Verführungen meiden.

Sie kommen am Schluss auf den modernen Terrorismus zu sprechen, insbesondere auf das Testament des Todespiloten Atta. Ist das sozusagen die Krönung ihrer Kollektion? Sind das grandiosesten Wahnvorstellungen, die ihnen untergekommen sind?

Wirth: Das kann man so sagen. Auch beim normalen Selbstmörder gibt es ja oft diese Grandiosität. Er hat häufig Phantasien, wie alle an seinem Grab stehen. Bei den terroristischen Attentätern ist das bis ins Extrem gesteigert. Der Fanatiker entwickelt ein narzisstisch übersteigertes Selbstbild, vertraut auf die allein selig machende Idee. Da geht jeder Selbstzweifel endgültig verloren.

Sollten sich die Vereinten Nationen auch mit einer kleinen Schar von Psychoanalytikern bewaffnen, um schwere politische Fälle auf die Couch zu zwingen?

Wirth (lacht): Man kann sie nicht auf die Couch zwingen. Aber im übertragenen Sinne ist das durchaus denkbar. Bei der Terrorismusbekämpfung sind auch Psychologen beteiligt. Und der US-Psychoanalytiker Vamik Volkan macht faszinierende Arbeit zu internationalen Konflikten, reist auch direkt in Konfliktgebiete.

Was würden sie sagen, wenn George Bush zu ihnen käme und spräche: Herr Wirth, die Dinge geraten außer Kontrolle, was tun?

Wirth: Ich würde ihm sagen, dass er auch auf die anderen zugehen muss, dass die Politik die Kräfte stützen muss, die auf Kooperation angelegt sind. Sie muss die Vereinten Nationen stärken, nicht nur benutzen und manipulieren. Mit diesem Instrument, das nicht vollkommen, aber doch ein guter Ansatz ist, muss man die Kooperation mit den schwachen Saaten und auch mit denen, die man als Gegner sieht, wirklich ehrlich befördern.

Haben Sie als Psychoanalytiker politischen Rat? Sie kritisieren, George Bush würde, wenn er mit dem Gestus des Kreuzzüglers gegen das Böse antritt, „der gleichen psychischen Spaltung folgen, die zu den Ursachen des Problems gehört“. Tritt hier Grandiosität gegen Grandiosität an?

Wirth: Ja. Ich versuche das mit einem Begriff aus der Paartherapie zu analysieren: der Kollusion, also dem unbewussten Zusammenspiel. Entweder schaukeln sie sich symmetrisch hoch – je grandioser der eine ist, desto mehr versucht ihn der andere zu übertrumpfen. Oder es kommt zur komplementären Partnerschaft: Je grandioser der eine ist, desto unterwürfiger und bewundernder wird der andere. Bei Bush und den Terroristen ist es eher so, dass sie versuchen, sich an Grandiosität, an berechnender Kälte, an Machtpolitik zu überbieten.

Sadomasochistische Weltpolitik. Keine schöne Zukunftsaussicht.

Wirth: Oh nein. Besonders, wenn man die Irak-Politik so betrachtet. Etwas ähnliches findet man ja auch zwischen Israelis und Palästinensern: Das Hochschaukeln von Gewalt und Übertrumpfung, der Versuch, den anderen in die Knien zu zwingen, der nur zu immer größerer Gewalt führt.

In der Tierwelt gibt es nichts vergleichbares. Wie kann die Menschheit die Tücken ihre Psyche in den Griff bekommen

Wirth: Das ist sozusagen die negative Seite, der Preis der Freiheit des Menschen. Wir müssen lernen, auszuhalten, dass wir sowohl in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen im Nahbereich als auch in der großen Politik von anderen extrem abhängig sind. Das beginnt beim Mutter-Kind-Verhältnis. Ein Kind ist extrem abhängig von Anerkennung und Zuwendung. Das bleibt der Mensch ein Leben lang. Sobald er versucht, diese Abhängigkeit und Ohnmacht zu verleugnen, gerät er in narzisstische Größenphantasien und wird versuchen, andere durch Macht zu kontrollieren. Ähnliches gilt für die weltweite Abhängigkeit der Menschen voneinander. In Zeiten der Globalisierung wird die reale Abhängigkeit voneinander sehr viel größer. Wir, die Reichen, können uns eben nur wohl fühlen, wenn wir anerkennen, dass wir von den ärmeren Teilen der Weltgesellschaft abhängig sind und die sich ebenfalls halbwegs wohl fühlen müssen.

Interview: Tom Schimmeck

Hans-Jürgen Wirth ist Psychoanalytiker in Gießen und Privat-Dozent an der Universität Bremen. Sein Buch „Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik“ (Gießen 2002, 439 Seiten, 24,90 Euro) ist im Psychosozial-Verlag erschienen, den Wirth leitet.


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