TOM SCHIMMECKs ARCHIV
Dezember 2001
 

Vorrücken auf Neufünfland

Bislang hat der Multimillionär ULRICH MARSEILLE vor allem Christdemokraten gefördert. Jetzt setzt er voll auf Schill, will dem Hamburger Rechtspopulisten zum Sieg im Osten verhelfen. Sachsen-Anhalt ist das erste Ziel 
E

r sei kein ängstlicher Typ“, sagt Ulrich Marseille, 45. Im Frühjahr etwa, das erzählt der Multimillionär gern, ist er mit seiner kaputten Cessna auf dem Hamburger Flughafen bauchgelandet, mit Funkenflug und allem“ auf den Beton gegangen und dann ab rechts in den Grünstreifen“. Die Landebahn war noch gesperrt, da war Marseille schon weg. Ich hatte einen wichtigen Termin.“

Abheben ist seine Passion. Mit 18 schenkte die Ziehmutter ihm das erste Flugzeug. Später hat sie Ulrich Hansel adoptiert – und ihm so ermöglicht, den Namen Marseille anzunehmen. Mit Ziehvater Theo schuf er einen Konzern von Altenpflege- und Reha-Einrichtungen, die Marseille AG, die im letzten Geschäftsjahr 170,8 Millionen Euro umgesetzt hat. Im Aufsichtsrat sitzen Leute wie Norbert Blüm und Ex-Bild-Chef Hans-Hermann Tiedje.

Marseille dreht gern ein großes Rad, wollte nie nur irgendwer sein. Nun sitzt er stolz in seiner feinen Stadtvilla an der Alster, gut betucht und noch besser verdrahtet. Als Aufsichtsrat der Berliner Top-Beratungsfirma WMP hat er es mit Hans-Dietrich Genscher, Günter Rexrodt und Roland Berger zu tun. Mit Donald Trump will er Wolkenkratzer in Deutschland bauen, den ersten ab 2002 in Stuttgart.

Kein Zweifel: Es geht aufwärts mit Ulrich Marseille. Doch er ist quasi arbeitslos“ – seit anderthalb Jahren führt Blüms Ex-Staatssekretär Wilhelm Hecker den Konzern. Mehrheitsaktionär Marseille (65 Prozent) schaut zu, tourt nur zur Weihnachtszeit manchmal mit Gattin Estella-Maria durch die Heime der Firma. Sie spielt dann das Piano, er singt.

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Auf der Suche nach neuen Herausforderungen ist der Blick des rührigen Millionärs auf Hamburgs neuen Politstar gefallen, den lärmenden Amtsrichter Ronald Barnabas Schill. Ein Mann nach seinem Geschmack. Mit dem, sagt er verzückt, bin ich 100 Prozent in Übereinstimmung“.

Bislang hat der Großunternehmer Politik eher nebenbei mit dem Scheckbuch betrieben, bedachte etwa den CDU-Staatssekretär Wolfgang von Geldern, später auch Bernhard Vogel in Thüringen und Jörg Schönbohm in Brandenburg. Die Beträge, quer durchs Land“ verteilt, waren oft sechsstellig. Volker Rühe bekam für seinen Wahlkampf in Schleswig-Holstein letztes Jahr über hunderttausend Mark – um gegen die Dame mit Hut“ zu siegen. Es klappte nicht.

Im Hamburg-Wahlkampf fuhr der Gönner schon mehrgleisig, sponserte alle Parteien der neuen Koalition – entsprechend der prospektiven Verteilung im Parlament“. Die FDP des Admiral Lange bekam 20 000, Schill rund 50 000, die CDU sogar fast 150 000 Mark. Schill ist da ein bisschen ungerecht behandelt worden“, meint Marseille mit Blick auf dessen 19,4-Prozent-Erfolg. Eigentlich müsste Ole von Beust jetzt etwas abgeben.“

Nun aber startet er durch, setzt alles auf Schill. Im Oktober hat Marseille seine CDU-Mitgliedschaft beendet, will ihr auch nichts mehr geben. Dafür versprach er Schill weitere 50 000 Mark. Wird auch höchstselbst aktiv. Er hat sich zum Ost-Beauftragten“ des Richterwahlvereins küren lassen. Es war ganz einfach: Schill fragte ihn: Mein Freund, wie wär’s?“. Marseille hat ja gesagt. Und ward sogleich einstimmig gewählt.

Das erste Ziel ist Sachsen-Anhalt, wo schon am 21. April 2002 gewählt wird. Das Land verspricht fette Beute: Die Erfolgsszahlen der PDS-tolerierten rot-grünen Koalition sind traurig, die CDU ist scheintot, ein DVU-Potential von 12,9 Prozent leicht abzuschöpfen. Selbst PDS-Wähler sind wilkommen. Ihren Protest, hofft Parteichef Schill, drücken sie sicherlich viel lieber mit uns aus“.

Da winken ungeahnte Möglichkeiten für einen Vereinfacher wie Schill. Nur dass es hier eher die Angst vor dem sozialen Absturz auszuschlachten gilt als die vor dem Verbrechen. Der Überdruss ist mindestens so groß wie in Hamburg. Die Umfragen sind schon jetzt bombig.

Der Millionär kommt grade recht. Zumal Schills Personaldecke so dünn ist, dass er schon die eigenen Abgeordneten als Führungsbeamte einstellt. Marseille kann Wirtschaftskompetenz verströmen. Er kennt sich aus in Sachsen-Anhalt, weil seine AG dort acht oder zehn“ – so genau weiß er das nicht – Einrichtungen betreibt, er obendrein 2700 Plattenbauwohnungen in Halle-Neustadt besitzt. Und er kostet nichts. Im Gegenteil.

Marseille, schwärmt der Kneipier und Ex-Boxer Peter Müller, Schills Expansions-Kommissar, hat ein Milliardenunternehmen aufgebaut und verfügt über das nötige Wissen.“

Der neue Ost-Beauftragte selbst gibt sich bescheiden. Zunächst wolle er demokratische Strukturen aufbauen und ein bisschen koordinieren“. Bis 19. Februar müsse der neue Landesverband stehen, an die 800 Mitgliedsanträge lägen bereits vor. Die Leute zeigen Herzblut“, findet er, der Wechselwille ist noch viel größer als in Hamburg.“ Keine Gefahr einer Bauchlandung.

Doch angesichts des großen Potentials gehen ihm schon die Augen über. Marseille rechnet mit bis zu 30 Prozent der Stimmen. Wir werden stärkste Fraktion und der Landtagspräsident wird uns mit der Regierungsbildung beauftragen“, verkündet er, ganz Konzernchef, sehr selbstsicher. Wird er dann Ministerpräsident? Glaub ich nicht“, meint er mit flötender Stimme. Nein, er wolle dem Landesparteitag Ende Januar nicht vorgreifen. Erst dann werde sich weisen, ob man vielleicht auch noch weitere Ämter übernimmt“.

Zumal das Abenteuer seine Tücken hat. Der Chaos-Faktor in Sachsen-Anhalt ist hoch. Gewiss, in Magdeburg wird schon kolportiert, ein ganzer Schwarm unzufriedener CDU-Abgeordneter erwäge den Wechsel zu Schill. Doch manche Herren, die sich bislang vor Ort für Schill ins Zeug warfen, sind schwer angefressen. Schon am Montag letzter Woche kam es im Hamburger Schill-Vorstand zum Showdown. Übereinstimmend berichten die Kontrahenten, dass es keine sehr harmonische Sitzung war.

Der bisherige Wortführer Norbert Hoiczyk etwa, ein 41-jähriger Oberstleutnant, der schon SPD, CSU und CDU beglückt hat, ist wegen Marseille bereits ausgestiegen. Er will mit Kumpanen nun eine Rechtsstaatliche Bürgerpartei“ gründen, die mit gleicher Programmatik“ die gleiche Klientel“ anspricht – obwohl das, weiß Hoiczyk, ohne eine Galionsfigur wie Schill nicht einfach wird“.

Dich Marseille, schimpt der Oberstleutnant, habe sich wie Ludwig XIV“ aufgeführt und ihm gleich erklärt: Die Partei bin ich.“ Der Mann wolle sich nur Zugang zu den Sozialtöpfen des Landes“ verschaffen. Sein Auftauchen haben in der lokalen Wirtschaft einen Aufschrei“ aufgelöst. Wollen wir“, fragt er wütend, einen Berlusconi in Deutschland großziehen?“

Andere haben mit dem Millionär gar kein Problem. Der Ex-Sozialdemokrat Kay Watermann etwa, der für Schill im Harz aktiv ist. Nach wie vor seien mit ihm viele gute Leute“ an Bord, meldet er letzten Dienstag. Sein persönliches Motiv? Er will Landesvater Höppner in den Orbit der Geschichte zurückbomben“.

Doch Marseille hat im Osten tatsächlich einen schillernden Ruf. Engagiert er sich politisch doch ganz zufällig oft dort, wo seine Geschäftsinteressen berührt sind. In Brandenburg spendete er der CDU 165 000 Mark, um die SPD-Alleinregierung zu beenden, mit der er sich mehr als 30 Prozesse um Zuschüsse für seine Kliniken geliefert hatte. Marseille sagt, er habe gegen eine fürchterliche, zutiefste Ungerechtigkeit gegenüber den alten Leuten“ gekämpft. Sozialdemokraten wie der jetzige Agrarminister Wolfgang Birthler sahen die Sache eher als Abzock-Feldzug gegen die Sozialministerin“. Der Streit endete dieses Jahr per Vergleich. Fast 50 Prozent der rund 1 200 Betten des Marseille-Konzerns in Brandenburg werden nun gefördert.

Auch in Sachsen-Anhalt ist der Name Marseille wohlbekannt. Die AG führt Prozesse gegen das Land. Marseille persönlich hatte die Stadt Halle wegen seiner Plattenbauten auf viele Millionen Mark Schadenersatz verklagt. 1999 förderte just dort eine Mieter- & Bürgerliste Halle“, die auf 7,1 Prozent kam. Der Spass soll Marseille 420000 Mark gekostet haben. Der Prozess ging trotzdem verloren.

Ein Choleriker? Oh nein, sagt Marseille sehr charmant. Er hole den großen Holzhammer“ nur heraus, wenn er angegriffen werde. Eine Verquickung von Geschäft und Politik vermag er nicht zu erkennen. Die Geschäfte, sagt er, sind von dieser Aufbauarbeit zunächst mal vollkommen untangiert“.

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