Noam Chomsky. Screenshot aus unserem Gespräch

Noam Chomsky: „Entweder wird dieser schreckliche Konflikt in der Ukraine durch Diplomatie beendet oder gar nicht.“

Für eine Rezension der deutschen Ausgabe von "Konsequenzen des Kapitalismus" sprach ich Ende Mai 2022 mit Noam Chomsky. Unweigerlich kamen wir auf den Krieg in der Ukraine zu sprechen. Ich fand seine Äußerungen interessant, konnte diese Passagen für meine Rezension aber nicht verwenden. Deshalb bot ich sie spontan der taz an. Die freundliche Chefredaktion teilte mir nach längerer Zeit mit, es habe sich "trotz mehrtägiger Suche" kein Ressort gefunden, das Chomsky drucken wolle. Damals war ich etwas verblüfft. (Heute bin ich das nicht mehr.)

Ich war zwischenzeitlich länger in den USA, vor allem abseits der großen Metropolen und habe mit sehr vielen Menschen gesprochen. Es war für mich immer wieder erstaunlich, wie wenig präsent dieser russische Angiffskrieg dort ist. In den "großen" Medien spielt er eine Rolle. Im Alltag – kaum.

Hin und wieder musste ich auf dieser Reise an Chomsky denken. Und veröffentliche seine Gedanken nun auf diesem Weg. Wie gesagt: Es war ein relativ kurzer Austausch. Wir waren nicht für ein Interview zum Ukraine-Krieg verabredet. Ansonsten hätte ich an mancher Stelle wohl mehr nachgehakt. Aber ich schätze Chomsky. Und finde, dass einige seiner Aspekte derzeit eher zu selten in der Debatte auftauchen.

Das Buch: Noam Chomsky, Marv Waterstone: Konsequenzen des Kapitalismus – Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand., Westend Verlag, 464 Seiten, 30 Euro

von Tom Schimmeck

Wie kam dieses Buch zustande?

Wir haben einfach ein gemeinsames Seminar veranstaltet. Mein Kollege und Freund Marv Waterstone ist ja emeritierter Professor hier. Sie sehen im Buch, wie das funktioniert: Eine Vorlesung von ihm, eine von mir. Und wir bringen Leute von außen hinein, Aktivisten, die ihre Erfahrungen beschreiben. Dann versuchen wir, die allgemeinen Nachwirkungen des Spätkapitalismus in der heutigen Welt, seine Ursprünge und Hintergründe bis ins 17.Jahrundert zu betrachten.

Sie haben immer mit den Vereinigten Staaten gehadert, gelten als führender Kritiker des US-Kapitalismus. Wie lebt es sich in einer solchen Heimat?

Ich preise es fortwährend. Auch in diesem Buch lobe ich die Menschen in diesem Land, aber nicht die Politik der Regierung. Eines der wichtigsten Ziele dieses Buches und meiner Arbeit der letzten 60 Jahre war es, den Aktivismus großer Teile der Bevölkerung zu unterstützen, der dieses Land sehr zivilisiert hat. So ist es ein viel besseres Land geworden. Wobei die geballten Wirtschaftsmächte und deren immer engeren Bande mit der Regierung natürlich eine andere Geschichte sind.

Wie hatten auf den Fortschritt der Menschheit gehofft. Auf mehr Mitsprache, Freiheit, Wohlstand für alle. Krieg war für sie immer ein zentrales Thema. Jetzt tobt ein Krieg im Osten Europas, in der Ukraine. Wie denken sie darüber?

Wir sind derzeit in einer Phase deutlicher Regression. Ich bin 93 Jahre alt. Ich erinnere die 1930er Jahre, erinnere, dass ich Hitlers Reden auf Kundgebungen in Nürnberg zugehört habe. Ich habe die Worte nicht verstanden. Ich war vielleicht fünf Jahre alt. Aber ich habe diese Stimmung gespürt. Ich erinnere das Münchner Abkommen von 1938. Nun, das war eine sehr dunkle Periode. Europa versank im Faschismus.

NOAM CHOMSKY, geboren 1928 in Philadelphia, ist ein Kind jüdischer Eltern. Schon in jungen Jahren faszinierte ihn der Anarchismus, intensiv beschäftigte er sich mit dem spanischen Bürgerkrieg. 1955 promovierte Chomsky in Linguistik, war ab 1961 ordentlicher Professor für Linguistik und Philosophie am Massachusetts Institute of Technology.
Seine revolutionären linguistischen Arbeiten genossen bald weltweit Aufmerksamkeit, er gilt als wichtiger Theoretiker auf diesem Gebiet. Und längst auch als der linke Kopf der USA. Chomsky ist der bekannteste Kritiker des amerikanischen Kapitalismus – die Stimme der USA, die den amerikanischen "way of life" als solchen in Frage stellt.
Schon 1964 protestierte Chomsky gegen den "Angriff auf Südvietnam", unterstützte – viel später – "Occupy Wallstreet" und viele andere soziale Bewegungen in den USA. Immer wieder thematisierte er das Wechselspiel von Macht und Medien – genauer: von Großkonzernen und Massenmedien – und die Mechanismen und Wirkungskräfte der Propaganda. Sein Buch "Die Konsensfabrik" (Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media, 1988) ist ein Klassiker.
Die Book Review der New York Times hat Chomsky einmal als "wichtigsten Intellektuellen der Gegenwart" bezeichnet. Chomsky zitiert mit dem ihm eigenen Humor gern den Satz, der diesem Lob folgte: "Wenn dies der Fall ist, wie kann er dann solchen Unsinn über die amerikanische Außenpolitik schreiben?"
Der 93jährige Chomsky lebt und lehrt heute in Tuscon, Arizona. Seine dort zusammen mit Marv Waterstone gehaltene Vorlesungsreihe "Konsequenzen des Kapitalismus - Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand", erschien Mitte Juni im Westend Verlag.
Foto: Noam Chomsky, 1977. Hans Peters / Anefo

Die 1990er galten als Ära eines Siegeszuges der Demokratie, weltweit, auch in Afrika etwa. Doch seit Jahren erleben wie Krise nach Krise, ein Comeback der Despoten. Und nun einen russischen Angriffskrieg. Den so niemand vorhergesehen hat, oder?

Wenn Sie das nicht kommen sahen, dann haben sie nicht hingeguckt. Ja, In Afrika gab es den Anfang einer Demokratisierungswelle. Aber die wurde von Europa und den Vereinigten Staaten sehr früh beendet. Die größte Hoffnung bestand für den Kongo, ein potentiell sehr reiches Land, das 1960 endlich unabhängig wurde. Mit Patrice Lumumba, einem sehr progressiven, charismatischen Anführer, schien es damals, als ob der Kongo vorangehen und ein Zentrum afrikanischer Demokratie werden könne. Die CIA erteilte den Auftrag, ihn zu töten. Aber der belgische Geheimdienst kam ihr zuvor. Dann haben die westlichen Staaten Mobutu Sese Seko eingesetzt, einen mörderischen Kleptokraten. Im Ostkongo wurden Millionen Menschen umgebracht, während multinationale Konzerne dort Mineralien abgebaut haben, die für Ihr Iphone gebraucht werden.

Lumumba wurde 1961 ermordet. Können wir 61 Jahre vorspulen, zur Ukraine? Sie haben gesagt: Putins Invasion sei kriminell. Dennoch sei ihr eine Provokation vorausgegangen.

Jeder, der seine Augen offenhielt, konnte sehen, was geschieht. Es war öffentlich. Man brauchte nur NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zuzuhören, der damit prahlte, wie die Nato die Ukraine nach dem Aufstand in 2014 mit Waffen versorgt und gemeinsame Militärübungen veranstaltet hat. Zugleich wusste jeder, dass die Ukraine und Georgien für Russland eine rote Linie darstellen, auch schon vor Putin, schon unter Jelzin. Hohe US-Offizielle, von George Kennan bis Henry Kissinger, auch Diplomaten, CIA-Chefs, sie haben alle darauf hingewiesen, wie waghalsig und provokativ es ist, zu versuchen in Russlands geostrategische Koordinaten einzudringen. Erinnern Sie sich an das "Unternehmen Barbarossa"!

Den deutschen Überfall auf die eben noch verbündete Sowjetunion 1941.

Die Russen haben das nicht vergessen, die Deutschen vielleicht schon.

Ich habe das nicht erwartet. Es gab Alternativen. Und wie gesagt: Dies ist eine kriminelle Invasion. Aus russischer Sicht ist sie zudem komplett idiotisch.

Die Nato-Erweiterung sehen sie als Provokation?

Führende Köpfe im Westen haben die Gefahren verstanden und davor gewarnt. Doch Washington verfolgte diese Pläne weiter. Im letzten September gab die Biden-Administration ein formelles Statement ab, mit dem sie dazu aufforderte, die Anstrengungen für eine Integration der Ukraine in die Nato und damit in das US-Militärkommando noch zu verstärken. Das US-Außenministerium hat offiziell erklärt, dass die USA sich auch in der Phase vor der Invasion weigerte, irgendwelche russischen Sicherheitsinteressen auch nur zu erwägen. Das rechtfertigt nicht diese kriminelle Invasion. Ja, sie ist kriminell und dumm. Aber man kann nicht sagen, dass es keine Anzeichen gab.

Viele waren dennoch konsterniert, dass Putin so weit geht. Dass er einen Angriffskrieg startet.

Ich auch. Ich habe das nicht erwartet. Es gab Alternativen. Und wie gesagt: Dies ist eine kriminelle Invasion. Aus russischer Sicht ist sie zudem komplett idiotisch. Schon weil sie den USA ihren sehnlichsten Wunsch auf dem Silbertablett serviert: Europa noch tiefer in ihre Taschen zu stecken. Sie untergräbt all jene Alternativen für Europa, die ja auch während des Kalten Krieges im Gespräch waren. Es ging auch damals schon um die Frage, ob Europa unabhängig werden kann, als eine Art dritte Kraft. Was Charles de Gaulle "ein Europa vom Atlantik bis zum Uralì nannte. Und Gorbatschow ein "gemeinsames europäisches Haus" – ohne Militärallianzen. Die Gegenoption war immer das sogenannte atlantische Modell, in dem die USA die Regeln bestimmt.

Die hat – dank Putin - nun endgültig obsiegt?

Russland hat den USA dieses Modell geschenkt. Man konnte das vor ein paar Wochen auf der Ramstein Airbase beobachten, wo die USA die NATO zu einem Treffen einberief. Nicht in Brüssel, nicht im Nato-Hauptquartier, sondern auf einem US-Luftwaffenstützpunkt, im Grund also auf US-Territorium. Dort haben die USA die Befehle ausgegeben, ganz explizit: Wir müssen Russland schwächen, so gehen wir vor. Was den Ukrainern widerfährt, interessiert uns nicht. Sie nennen es tatsächlich das "afghanische Modellì, mit Blick auf die 1980er.

Als Russland noch Krieg in Afghanistan führte. Und Ronald Reagan dort die Mudschahedin bewaffnen und ausbilden ließ. Sehen Sie einen Ausweg?

Wie sollten ein paar Wahrheiten im Kopf behalten. Entweder wird dieser schreckliche Konflikt in der Ukraine durch Diplomatie beendet oder gar nicht. Das steht außer Frage. Die USA und das Vereinigte Königreich sind gegen Diplomatie, explizit. Andere europäische Mächte sehen das anders – man hört das in den Äußerungen von Draghi, Scholz, Macron. Aber die USA sind dagegen. Und sie werden sich natürlich durchsetzen.

Plötzlich ist die Rede davon, wir müssten für unsere moralischen Prinzipien kämpfen. In der Dritten Welt biegen sie sich vor Lachen: "Welche moralischen Prinzipien? Ihr habt keine moralischen Prinzipien. Das wissen wir aus der Erfahrung von Jahrzehnen, Jahrhunderten." Vergessen Sie das.

Die Folgen?

Eine andere Wahrheit: Wenn es nicht zu diplomatischen Lösungen kommt, die natürlich ein Geben und Nehmen beinhalten müssen, führt man ein grässliches Experiment durch, da müssen wir ehrlich sein. Es lautet: Lasst uns schauen, ob Putin sich einfach davonschleicht oder ob er die militärischen Möglichkeiten, die er zweifelsohne hat, nutzt, um die Ukraine weiter zu verwüsten und die Bühne für einen möglichen Atomkrieg zu bereiten. Das ist das Spiel. Das grässliche Spiel.

Viele, auch kritisch eingestellte Menschen betrachten Diplomatie jetzt als ein Zurückweichen vor dem Aggressor.

Plötzlich ist die Rede davon, wir müssten für unsere moralischen Prinzipien kämpfen. In der Dritten Welt biegen sie sich vor Lachen: "Welche moralischen Prinzipien? Ihr habt keine moralischen Prinzipien. Das wissen wir aus der Erfahrung von Jahrzehnen, Jahrhunderten." Vergessen Sie das. Für moralische Prinzipien kämpfen heißt übersetzt: Ein Spiel zu treiben mit dem Leben von Ukrainern. Je länger der Krieg andauert, desto mehr Menschen sind vom Hungertod bedroht, im Nahen Osten, in Afrika und Asien. Das sind die Wahrheiten. Danach kann man sich entscheiden. Man muss sich dieser Realität stellen.

Noam Chomsky als Verfechter einer "Realpolitik"!

Ich fand es interessant, dass auch Henry Kissinger, sicher nicht meine Lieblingspersönlichkeit, genau dieses gesagt hat.

Sie sollen sogar Donald Trump gelobt haben.

(lacht) Ja, so steht es dann in den Schlagzeilen. Tatsächlich habe ich alle anderen kritisiert. Was ich gesagt habe: Der einzige Umgang mit dem Problem – abgesehen von diesem scheußlichen Experiment, der einzige vernünftige Umgang ist es, sich der Diplomatie zuzuwenden. Und die einzigen Figuren, die so etwas derzeit artikulieren, sind Donald Trump in den USA und Jeremy Corbin in England. Ja, in den USA müssen wir uns jetzt Leuten wie Donald Trump und Henry Kissinger zuwenden. Worin sich das enorme Risiko der ganzen Angelegenheit spiegelt. Die herrschende politische Kultur ist derzeit vollkommen zufrieden damit, moralische Prinzipen vorzutäuschen, die sie nicht hat. Und auf der Basis dieser Täuschung ein grausames Experiment durchzuführen.

Steht dahinter wirklich ein Plan? Oder ist es eher ein Zeichen zunehmender politischer Verwirrung?

Es gibt hier kein Konzept, auch nicht in der politischen Klasse. Wir haben Wahnsinnige wie Hillary Clinton, die eine "no-fly zone" vorschlagen. Zum Glück ist das Pentagon vernünftig genug, ein Veto gegen solche Vorschläge einzulegen. Was bedeutet eine No-Fly-zone? Dass man russische Luftabwehrstellungen in Russland angreift. Was für ein toller Spaß! Nein, es gibt nicht nur keine moralischen Prinzipien hier. Null. Das ist nur Pose. Es gibt auch keine elementare Vernunft. Man muss zu Leuten wie Henry Kissinger und Donald Trump gehen, um ein bisschen Einsicht zu finden. Da ist schon verblüffend.

Eine kurze Erklärung dafür?

Man muss sehen: Kriege sind in den USA etwas, das anderswo stattfindet, nicht hier. Wir blicken auf eine 200 Jahre währende Geschichte des Kampfes in anderen Ländern. Der letzte Angriff hier fand im Krieg von 1812 statt.


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