Feldpost, Flips & falsche Freunde

Der erste deutsche Nato-Auslandseinsatz läuft.
"Unsere Jungs" sind in Kroatien

1995 
von Tom Schimmeck 

Im Café hängen Fotos von Helden. „Aaah, Deutsche“, brummt der Inhaber wohlgefällig, als die kleine uniformierte Schar mit dem schwarzrotgoldenen Fähnchen am Ärmel sein Etablissement betritt. „Ich habe drüben in Bosnien auch mit einem Deutschen gekämpft, guter Junge.“ Er zeigt auf ein Foto, das ein bewaffnetes Milchgesicht in Camouflage zeigt. Ein Söldner? „Klar.“ 

Er ist selbst ein Held. „Ich hab’ das hier alles zurückerobert“, dröhnt der Cafébesitzer, der sich nun als Major der kroatischen Special Forces vorstellt. Die deutschen Offiziere verstecken ihre Gesichter in den Kaffeetassen. „Deutsche und Kroaten sind gute Freunde“, schwadroniert er weiter. Im Zweiten Weltkrieg hätten sie zusammengestanden bis zum Ende – „until both got fucked“, wie er in feinstem Englisch mit kehligem Lachen sagt. Die Bundeswehr-Offiziere drängen zum Aufbruch. 

Fürchte deine Freunde. Im Örtchen Benkovac, wo Typen vom Schlage dieses Kroaten das öffentliche Leben beherrschen, sollen demnächst deutsche Pioniere in eine kroatische Kaserne einziehen. 

Das Land dahinter, lange von Serben gehalten, ist verwüstet und leer. Die Serben suchten alle kroatischen Spuren auszulöschen. Als Kroatien im vergangenen Sommer die Krajina zurückeroberte, wurde auch der serbische Besitz zerstört. Nun findet man auf langen Fahrten keine Seele mehr. Die Erde ist vermint, die Läden sind geplündert, in einem zerschossenen Zeitungskiosk stapeln sich noch serbische Blätter, obenauf „Politika“ aus Belgrad. Ansonsten nur verstreuter Müll, umgekippte Autos, leere Ruinen mit rußgeschwärzten Fensterhöhlen. Alle Häuser sind durchlöchert, verbrannt, gesprengt. Oft wurde einfach eine Kerze unters Dach gestellt und der Gashahn aufgedreht. Es herrscht die drückende Stille eines frischen Tatorts. Noch blieb den meisten deutschen Soldaten dieser Anblick erspart. Nur ein paar vom ersten Kontingent sind einmal spontan ins Landesinnere gefahren, um zu erinnern, warum sie hier sind: „Bei uns“, sagt einer, „war nur noch Urlaubsstimmung.“ 

Das Städtchen Trogir unweit von Split, wo das deutsche Hauptquartier residiert, hat den vergilbten Charme eines vergessenen Ferienparadieses. Es blieb vom Krieg verschont. Auch hier gibt es nur Freunde. Das Kredo der Einheimischen lautet: „Deutsch – gut“. Die belebteste Gasse der schönen Altstadt heißt „Kohl-Genscher-Straße“ – in Würdigung der bundesdeutschen Verdienste um Kroatien. Wobei die Zuneigung von wenig Wissen getrübt wird: Zunächst hatte man „Köhl-Genscher“ in die Steintafel gemeißelt. Die Tüpfelchen wurden später zugespachtelt. 

Die deutsche Linie heißt: „Wir sind Teil des Bündnisses, wir machen nichts bilateral.“ Für deutsche Soldaten gilt „Zurückhaltung, wo es geht“, Ausgang gibt es nur zu zweit – und in Zivil. Weihnachten, als der katholische Militärpfarrer in der Kathedrale von Trogir predigte, wurde eine Ausnahme gemacht. Die Gemeinde hatte um deutsche Gläubige in Uniform gebeten. Bloß keine Extrawurst. Die Führung will „tunlichst unerwünschte Verbrüderung vermeiden“. Doch man erfreut sich auch an der Sonderrolle. „Deutsch reden ist die halbe Miete“, berichten Offiziere. Im Krankenhaus von Split hat man den Deutschen zu verstehen gegeben, daß man ihre Soldaten, anders als Briten und Franzosen, sofort behandeln würde. Die Y-Schilder der Bundeswehr wurden vorsorglich nicht von den weiß gespritzten UN-Fahrzeugen entfernt. Und freudig wird berichtet, es sei noch keines geklaut worden. „Es ist sicher nicht unser Schaden“, sagt Ex-Kommandeur Glawatz, „daß die Kroaten uns freundlich gesonnen sind.“ 

Weiß ist out, natogrün in. Die Fahrzeuge werden umgespritzt, die Kräfte sind, wie die Militärs sagen, „im Aufwuchs“. Am 18. Februar soll volle Einsatzbereitschaft erreicht sein: 2625 Landkräfte mit 1150 Fahrzeugen, dazu die Tornados in Italien und die Marine in der Adria. Im Camp Solaris nahe der Hafenstadt Sibenik, einst ein Campingplatz mit Restaurant, Souvenirshop und Wasserrutsche, richten Pioniere Unterkünfte für die Transportverbände her, stutzen Bäume und ziehen Zäune. Die Soldaten hätten hier eine Chance, mehr über den Krieg zu lernen: In den Hotels rundum leben Flüchtlinge aus Bosnien. 

Am Flughafen Zadar, keine 100 Kilometer die Küste hinauf, werden die deutschen Heeresflieger unterkommen. Das Gelände für ihre Container ist bereits planiert. Der Hangar ist geräumig. Doch das riesige Tor ist von Kugeln perforiert – der Flughafen wurde mal von Serben, mal von Kroaten gehalten. Beide Seiten haben ihre Namen und Sprüche über alle Wände geschmiert. Es heißt, die Serben hätten die Waschbecken und Rohre mitgehen lassen. 

Das deutsche Hauptdorf in Trogir, 300 mal 300 Meter groß, mit Nato-Draht umfaßt, ist völlig autark. Tag und Nacht brummen die Generatoren. Das Feldlazarett, ein riesiges Zelt, das ein Gewirr von Stationen, Behandlungs- und Operationsräumen beherbergt, ist schon seit August einsatzbereit. Bald soll es die doppelte Kapazität haben. 

Rundherum entsteht eine streng rechtwinklig angeordnete Containerstadt. In den weißen Kästen sind Büros und Quartiere, Duschen, Klos und die Arztpraxen untergebracht. Treibstoff und das Gros der Nahrungsmittel kommen aus Germany. Für die Seele gibt es neun Sorten Ritter Sport, Erdnußflips, Weinbrand (die Flasche ab 3 Mark), Zigaretten (1, 30 Mark die Packung), zwei Pfarrer (katholisch und evangelisch) und einen Truppenpsychologen. 

Zur Zerstreuung werden Fitneßgymnastik, Jogging, Mountainbiketouren, auch Kicker, Video, Satelliten-TV und diverse Kneipen geboten: Das Kasino, geschmückt mit Tarnnetzen, einem Fallschirm und Deutschland-Plakaten, verströmt echten Bundeswehr-Charme. Alternativ locken die Zelt-Gaststätte „Tempelhof“ und eine bezaubernde kleine Bar direkt am Wasser. Die Fernmelder machen zuweilen Disco. Weil das Geschlechter-Verhältnis bei etwa 500:20 steht, trinken Frauen den ersten Sekt gratis. 

Es ist ein Freilichtmuseum für deutsches Wesen. „Ich bin sicher, Sie werden Ihren Auftrag vorbildlich erfüllen“, hatte Verteidigungsminister Volker Rühe zum Abschied gesagt. Das tun sie: Stets ist von „unserem Standard“ die Rede, von Betriebsschutz, Strahlenschutz, Umweltschutz. Man müht sich, „die deutschen Vorgaben zu erfüllen“. Deutsche Schreibkräfte sitzen auf ergonomisch geformten Stühlen an vorschriftsmäßig beleuchteten Tischen. Altöl wird gesammelt. Nur die Trennung des Mülls hat man aufgegeben. Das sei, sagt der zuständige Offizier, „in Kroatien nicht durchführbar“. 

Im Übergangslager Primosten verfügt der Lebensmittelchemiker nach einer Keimanalyse sofort die Schließung der Küche. Zwei Jahre lang hatten dort kanadische Truppen gekocht. Nun machen deutsche Experten „ungezieferdicht“. Ja, sagt der zuständige Offizier, man habe „schon ungläubiges Staunen geerntet“. 

Rühes Planer haben an alles gedacht: an die eigene Straßenreinigung, eine Feuerwehr, die Wäscherei mit den guten Miele-Maschinen und das Feldpostamt mit einem Original-Postbeamten. Zu Weihnachten kamen fünf Tonnen Brie- fe und Pakete von daheim, auch Weihnachtsbäume wurden eingeflogen. Auf dem Hubschrauberlandeplatz sprach Generalinspekteur Naumann zu den Männern und Frauen. Über dem Basketballkorb hing derweil ein Tarnnetz, damit es „nach was aussieht“. 

Was hat die Soldaten auf den Balkan gelockt? „Endlich kann man mal einsetzen, was man jahrelang geübt hat“, meint ein Ex-Kellner beim Bier im „Tempelhof“. Unteroffizierin Vanessa, erst 19, wollte „mal vier Monate net dahoim sein“. Einen Obergefreiten aus Thüringen, der hier Wache schiebt, trieben „Neugier und auch das Geld“ – zusätzlich zum normalen Sold gibt es 130 Mark steuerfrei pro Tag, macht knapp 4000 Mark im Monat. Von seinem Bataillon haben sich bestimmt 200 Mann freiwillig gemeldet. Nur 15 durften mit. 

Auch edlere Motive sind im Spiel: „Für mich“, sagt ein Oberstabsfeldwebel, „war es das Höchste, als mein Vorgesetzter mich fragte; fast so, als hätte man mir das Bundesverdienstkreuz umgehängt.“ Der Mann ist sorgenfrei: „Ich denke, daß hier alles kalkulierbar ist und unsere Führer uns umfassend informieren.“ 

Politisch gibt man sich korrekt: in Maßen stolz, nur minimal patriotisch. „Es war rührend, die deutsche UN-Vorhut in Zagreb zu beobachten“, berichtet ein Mitarbeiter einer deutschen Hilfsorganisation. „Sie waren so überzeugt von der Wichtigkeit ihrer Mission und zugleich so unsicher, als ob man ihnen eingeschärft hätte: ,Morgens müßt ihr euch die Zähne putzen, und abends auch.“ “ 

Keiner weiß, wie gefährlich die Operation sein wird. Die Hardthöhe schickt jedem Konvoi nach Bosnien eine Satcom-Anlage mit, um notfalls direkt mit den Offizieren sprechen zu können. Akut sind deutsche Soldaten nicht bedroht. „Bislang ist die größte Gefahr, daß man sich auf den Geist geht“, sagt der Truppenpsychologe. 

Sie wollen mehr sein als die Vorhut von Neckermann. Immer wieder wird betont, daß dies kein humanitärer, sondern ein richtiger Einsatz ist. Sie warten. Die Container-Reihe der Fachärzte heißt im Lager-Jargon längst „Herbertstraße“ – nach der gleichnamigen Gasse auf St. Pauli, wo die Prostituierten ewig neuer Kundschaft harren. 

Irgendwie sind alle froh, daß nicht ständig schwerverletzte Soldaten per Hubschrauber kommen. Aber sie langweilen sich auch. „Ich kenne jetzt alle deutschen Fernsehsender und den halben Generalstab“, seufzt ein Bundeswehrarzt in der Kantine, „jetzt hätte ich gerne mal einen Patienten.“ 

© Schimmeck