TOM SCHIMMECKs ARCHIV
2004

Alis Liebe

Die Türkei drängt voller Hoffnung in die EU. Doch in Europa zittert noch viel Kleingeist.

 von Tom Schimmeck

W
enn einem Politiker gar nichts mehr einfällt, hat er immer noch den Ali. Der Ali ist ein feiner: Er wohnt nah genug, um den Glauben zu wecken, man kenne ihn ein bisschen. Und ist doch fremd genug, um eine prima Projektionsfläche für Ängste und Hassgefühle abzugeben.

Die Errettung Wiens vor den anstürmenden Türken im Jahre des Herrn 1683, befand kürzlich der niederländische EU-Kommissar Frits Bolkestein, sei im Falle eines EU-Beitritts der Türkei wohl "vergebens gewesen". Es blieb eine Einzeldummheit. Doch der peinliche Rückgriff auf die Attacken osmanischer Horden zeigt, wie verquer die Debatte noch immer verläuft. Was, Herr Bolkestein, hat Napoleon einst mit Europa angestellt? Erinnern sie noch einen Anstreicher namens Hitler? Man könnte auch erwidern: Einer wie Atatürk hätte etwa dem katholischen Italien gewiss gut getan.

Wenn Ali klopft, wird Tante Europa immer ein bisschen verrückt, packt all ihre Macken, Märchen und Illusionen aus. Dabei klopft Ankara seit über vier Jahrzehnten geduldig an die Tür. Die Türkei ist seit 1949 im Europarat, Mitglied der OECD und der NATO seit 1952 als Südostflanke hochwillkommen. 1959 stellte sie ihren ersten Antrag bei der EWG.

Manche tun jetzt trotzdem ganz entsetzt, schreien: Hilfe! Die Türken kommen! Just in Wien sammelt sich der heftigste Widerstand. Dort findet der christdemokratische Kanzler Wolfgang Schüssel, Europa müsse erst einmal die letzte Erweiterungsrunde "verdauen". Welch brillantes Europadenken: Wir haben gerade den Osten gefressen und der Bauch ist uns noch schwer. Schüssels Hauptopponent von der SPÖ, ein Herr Gusenbauer, schließt sich an, fürchtet eine "Verwässerung der Union". Noch eifriger geifern Schüssels glücklose Co-Piloten von der rechten FPÖ. Nur einer nicht: Der ewig schrille Jörg Haider ist für die Türken und erklärt, alle anderen seien "offenbar lauter Hornochsen". Aber Haider zählt nicht mehr. Der war auch für Saddam Hussein.

Ist es also das alte Osmanen-Trauma? Oder die triste Implosion des Habsburgerreiches? Vielleicht einfach der Katholizismus? Der Vatikan zu Rom wettert schließlich auch gegen eine Annäherung an Istanbul, ehemals Byzanz. Aber das kann kaum sein: Spanien etwa ist vehement für Beitrittsverhandlungen, ja selbst Berlusconis Truppe – abzüglich der Lega Norte.

Österreich ist der Extremfall einer verqueren Debatte. Das Land, vor kurzem noch Randstaat, jetzt umringt von EU-Ländern – bis auf die ganz spezielle Schweiz natürlich –,  profitiert enorm vom friedvollen Wachstum. Doch fehlt eine positive Europa-Vision. Österreich sieht sich noch immer als Opfer der Geschichte, gern auch als erstes Naziopfer – obwohl sich bekanntlich die Massen klatschend am Straßenrand drängten, als der Adolf aus Braunau einrollte.

Wer stemmt sich noch gegen die Türken? Neumitglied Zypern kokettiert mit einem Veto. Die Dänen sind wieder nicht glücklich. Die Franzosen auch nicht. Der wendige Jacques Chirac, bis auf weiteres für den Beitritt, will, Widerstand verspürend, sein Volk abstimmen lassen. Sein Premier Raffarin gibt contra, Ex-Präsident Giscard d’Estaing fabuliert vom "Ende Europas". Die Türkei, darf man vermuten, hat der Nicht-mehr-so-grande-nation einfach zu viel Menschen und Masse. Ein Konkurrent, o la la!

Faszinierend, wer in Europa sein Süppchen mit dem Thema Türkei würzt. Zu groß, zu arm, zu unreif, heißt es, zu asiatisch, zu muslimisch, zu teuer. Deutschlands Christenunion unter Angela Merkel erwägt gar eine Anti-Beitritts-Unterschriftenaktion. Nur um, auf Kosten der Türkei und Millionen türkischer Einwanderer in Deutschland, einen heftigen Grundsatzstreit zwischen CDU und CSU zu übertönen und schnell ein paar billige Punkte zu machen. SPD-Altkanzler Helmut Schmidt erspäht im energischen Eintreten der Amerikaner und Briten für den Beitritt gar den Beleg für eine angelsächsische Verschwörung gegen Europa.

Die Mehrheit der EU aber ist, zum Glück, für Verhandlungen. Mitte Dezember werden die EU-Staatschef entscheiden, ob und wann mit der Türkei Verhandlungen aufgenommen werden. Die EU-Kommission nickte soeben schon gen Ankara. Dank Erweiterungskommissar Günter Verheugen, der seinen Kollegen die historischen Dimensionen aufzeigte. "Mindestens drei der bisherigen fünf EU-Erweiterungsrunden", argumentiert Verheugen, "sind nicht ökonomisch oder kulturell, sondern sicherheitspolitisch und strategisch bestimmt gewesen: Die Beitritte von Griechenland, von Spanien und Portugal und von acht mittel- und osteuropäischen Staaten am 1.Mai 2004."

Das ist entscheidend. Die EU ist die Friedensgemeinschaft, die den zweiten Teil des 20. Jahrhunderts zu einem Erfolg gemacht hat. Sie hat junge Demokratien hereingeholt, gefördert, stabilisiert. All diese jungen Demokratien sprechen jetzt – mit der kleinen Ausnahme von Litauen – für die Türkei. Am schönsten das Beispiel des Ex-Erzfeindes Griechenland, wo Konservative und Sozialisten gemeinsam für eine Annäherung an den Nachbarn eintreten.

Warum? Weil diese Länder wissen, wie man Geschichte zum Guten wendet. Und genug Mut und Phantasie haben, Europas enorme Chance zu sehen, eine Brücke nach Asien und zum Islam zu schlagen. Wir müssen Alis Liebe nur erwidern.


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